Am 3. & 4. Juni 2008 treffen sich in Riga die Ostseeanrainerstaaten zu ihrem "Gipfel" - Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Deutschland, und sogar Norwegen und Island. Seit 1992 galt diese Zusammenarbeit als wegweisend für ein friedliches Miteinander nach dem Fall von "eisernem Vorhang" und der Konfrontationen des Kalten Krieges, vor allem auch durch die Einbeziehung Russlands. Im Ostseeraum vernetzt sich immer mehr - aber die Wege der Politik trennen sich: während die einen die Ostseekooperation nunmehr als "EU-interne Angelegenheit" betrachten möchten, setzen die anderen auf das gemeinsame Attribut "nordisch". Wird der Ostseegipfel von Riga vielleicht sogar der letzte sein?
Die gegenwärtige lettische Ratspräsidentschaft tut einiges, den Eindruck aufkommender Gleichgültigkeit wegzuwischen: "Balticness" (Baltischheit?) wurde als zwischenzeitliches Leitwort neu geschaffen: eine Wanderausstellung junger Fotografen, plus tourende lettische Jazzer sollen dieser Idee auf die inspirativen Sprünge helfen. Aber diese nur sehr punktuell vor "erlesenem" Publikum stattfindenden Veranstaltungen (meist Wirtschaftssenioren und hochschulinternes Publikum) werden wohl kaum nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Viel interessanter scheint das, was hinter den Kulissen, in den Komittees der sogenannten "senior experts" diskutiert wird. Auflösung des Ostseerats? "Anschluss" der meisten Anrainer an den Nordischen Rat? Eine neue "nordische Strategie" der Europäischen Union? Oder ganz weg von der Ostseekooperation, die ja teilweise auch als Mittel zur Annährerung an neue EU-Mitglieder genutzt wurde: nach Weißrussland (=Demokratiedefizit), Ukraine (NATO-Aspirant), oder gar Georgien (Empfänger von "Entwicklungshilfe" und "Lieblingsfreundesland" auch der drei baltischen Schwestern)?
"2009 müssen wir bereit sein, in der EU zu deren neuen Ostseestrategie mit einer Stimme zu sprechen", - das schrieben vier dänische und schwedische Europaparlamentarier am 11.4. in der dänischen Zeitung "information". Als eine der möglichen Strategien wird hier für eine "Ausweitung des Nordischen Rats" plädiert - eine Entwicklung, die dieser allerdings bereits seit etwa zwei Jahren mit der Ausweitung seiner finanziellen Förderprogramme auf die meisten der Ostseeanrainerstaaten (einzige Ausnahme: Deutschland!) einzuleiten versuchte. Ostseepolitik also in Zukunft gegen die "großen Länder in der EU"?
Anne E. Jensen, Johannes Lebech, Olle Schmidt und Henrik Lax befürworten allerdings in ihrem Beitrag in der "Information" auch eine Einbeziehung Deutschlands. Wird Deutschland also nordisch? Oder soll dies - wo sich doch schon die 16 deutschen Bundesländer bezüglich der Neuordnung ihrer föderalen Strukturen nur schwer einigen können - ganz der Regionalpolitik einzelner norddeutscher Bundesländer überlassen werden?
Wichtig scheint es vor allem zu sein, dass sich wieder etwas nach vorn bewegt. Wo scheinbar längst alles einheitlich zu sein scheint, geht es in der Praxis nur schwer voran. Zwar sind Umweltschutzfragen (durch die HELCOM), Wirtschaftsförderung (durch die Handelskammern und EU-Fördergelder), Tourismus (durch neue Leitprojekte) und die Kriminalitätsbekämpfung (durch Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden) inzwischen besser geregelt. Aber die Nachwirkungen des forschen deutsch-russische Alleingangs in Sachen Nordstream (Gaspipeline) sind immer noch nicht ganz behoben. Vor allem Deutschland hängt in der Ostseekooperation weit hinterher: mit Geld in den Taschen zum Nachbarn zu kommen, wenn es an grundlegender Kommunikation und Verständnis für die Perspektiven des Nachbarn fehlt, das reicht eben nicht immer.
Sinikka Bohlin, Abgeordnete im schwedischen 'Riksdagen' und Präsidiumsmitglied im Nordischen Rat, schiebt die Verantwortung für eine "Wiedervereinigung" der Konzepte zur Ostseekooperation zunächst einmal weit weg. In einer Erwiderung auf den erwähnten Diskussionsbeitrag vom 11.4. plädiert sie am 17.4.2008 (ebenfalls in "Information") für eine Konzentration auf die Arbeit der Versammlung der Ostseeparlamentarier (engl. abgekürzt: BSPC). Doch - liebe Damen und Herren Politiker - glaubt ihr denn mal wieder, alles allein entscheiden zu dürfen? Sich selbst (also den Berufspolitiker/innen) die Macht zu sichern, und damit die zarten Pflänzchen anderer Mitwirkungsmöglichkeiten durch die Bürgerinnen und Bürger der Ostseestaaten wieder hintenan zu stellen? Wer das für durchsetzbar hält, der glaubt wohl immer noch, die eigene Politik sei nur durch das Verschweigen der eigenen Ziele durchsetzbar!
Ostseegipfel in Riga - das erinnert an das kümmerliche Bild des sonst gar nicht so zurückhaltenden Ex-Kanzlers Helmut Kohl, der sich in den 90er Jahren stur weigerte, die frisch unabhängigen baltischen Staaten mit einem Staatsbesuch zu beehren. Im Januar 1998 kam er dann doch für ein paar Stunden nach Riga - um sich dort fast ausschließlich nur mit seinem russischen Gesprächspartner Tschernomyrdin zu unterhalten (kein gutes Omen - Ende desselben Jahren waren beide nicht mehr in ihrem Amt). Am Ende der Amtszeit des Kanzlernachfolgers also wieder ein Akt der Ignoranz, den zu reparieren viele Gespräche kosten wird - auch wenn Bundeskanzlerin Merkel allseits erstaunliche Vorschußlorbeeren entgegengebracht wurden.
Der Diskussionsbeitrag in "Information" benennt auch die gegenwärtigen Schwächen: große Unterschiede bestehen noch durch sehr unterschiedliche historische Erfahrungen und Prägungen einzelner Länder, in einer unausgewogenen Energiepolitik (die im Zweifelsfall nur denjenigen dient, die Energie exportieren können), und in Defiziten bei einer zu vereinheitlichenden Gesetzgebung. Demnächst soll also die EU eine neue Ostseestrategie ausarbeiten. Es ist sicher der These zuzustimmen, dass nur derjenige etwas in der Zukunft verbessern kann, der aktiv diese Strategie bereits mit vorbereitet. Aus deutscher Sicht klingt dies allerdings wie ein Rufen übers weite Meer: wo sind sie, die deutschen Diskussionsbeiträge? Werden endlich einmal partnerschaftliche Zusammenarbeit mit dem großen Nachbarn Russland, und gut-nachbarschaftliche Beziehungen mit den "neu-nordischen Staaten" rund um die Ostsee zwei Seiten derselben Medaille sein?
Ankündigung des lettischen Außenministeriums zum Ostseegipfel
Fotogalerie "Balticness"
"Mere handling i Østersøregionen" (Information 17.4.2008)
"Baltinfo" - englischsprachiger Newsletter des Ostseerats
26. April 2008
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